Rasantes Wachstum, rasanter Wandel – der Gastvortrag von Christian Stöcker im Rückblick

von la

ChatGPT einen Text lektorieren lassen ist praktisch.

Mit Midjourney ein Bild erstellen ist unterhaltsam.

Aber was bedeutet KI abseits dieser kleinen Lifehacks? Was macht sie mit unserer Gesellschaft und unserem öffentlichen Diskurs? Diese Frage treibt viele um: Das Sparkassen-Forum war am Montagabend (12.6.) gut besucht, als Prof. Christian Stöcker (HAW Hamburg) zum Thema „KI und die Zukunft der Öffentlichkeit“ sprach. Viele Studierende, aber auch Alumni und Interessierte waren der Einladung von IfK, IfK-Förderverein und SchauflerLab gefolgt.

Vor allem eine Darstellung tauchte im Vortrag des Professors für Digitale Kommunikation und Journalisten immer wieder auf: Kurven exponentiellen Wachstums.

Die erste exponentielle Kurve zeigte das „Mooresche Gesetz“: Die Faustregel des kürzlich verstorbenen Intel-Gründers Gordon Moore besagt, dass sich die Zahl der Chips auf Transistoren ungefähr alle anderthalb bis zwei Jahre verdoppelt. Will heißen: Computer werden immer schneller immer leistungsfähiger. Ein erster Vorgeschmack auf die Rasanz der Entwicklung, in der wir uns befinden.

Die zweite exponentielle Kurve zeigte die Rechenpower, die zum Trainieren von KI-Software genutzt wird: Zwischen 2012 und 2019 hat sie um das 300.000-Fache zugenommen und wächst exponentiell weiter. Die Daten zeigen aber auch, dass die Entwicklung vor allem von der Industrie und Unternehmen wie Google getrieben wird, während Universitäten oder Non-Profit-Akteure kaum beteiligt sind.

Die dritte exponentielle Kurve zeigte die Anzahl der Parameter, auf denen die KI-Software basiert. Mit der Entwicklung von ChatGPT steigt die Kurve so stark an, dass der restliche Graph kaum noch zu erkennen ist: ChatGPT 2 hatte 1,5 Milliarden Parameter – ChatGPT3 hat 175 Milliarden. Bei künftigen Versionen von ChatGPT, so Stöcker, werden die Parameter wohl in die Billionen gehen.

Umso wichtiger sei es, die Grundlagen der KI zu verstehen. „Damit quäle ich sie jetzt 20 Minuten“, sagte er, „aber das gehört zum Handwerkszeug eines aufgeklärten Menschen im Jahr 2023.“ In besagten 20 Minuten erfuhr das Publikum, was ein neuronales Netz ist, warum Freiwillige in den USA Ziffern von 0 bis 9 in Kästchen schreiben und warum KI-Software in einen blauen Himmel Fantasietiere hineinhalluziniert. Wichtigste Erkenntnis: KI kennt keine Bedeutung, hat schon gar kein Bewusstsein, auch wenn manch Chatbot einen vielleicht vom Gegenteil überzeugen will. „Textgenerierende KI zum Beispiel schaut einfach nur, welches Wort auf ein anderes Wort mit der höchsten Wahrscheinlichkeit folgt.“

Die vierte exponentielle Kurve war in einem Hörsaal. Stöcker hat mit KI-Tools wie Dall-E und Midjourney Bilder generiert, auf denen ein Roboter Studierenden exponentielles Wachstum erklären soll. Das Bild präsentierte Stöcker in mehreren Ausführungen, erst schlicht und holzschnittartig, dann vom Foto kaum noch zu unterscheiden. Zwischen den Bildern liegen nur wenige Monate, ein deutlicher Qualitätssprung. Einen Aspekt haben sie aber gemeinsam: Die exponentielle Kurve ist eigentlich gar keine, die Darstellung völlig falsch. Selbst der realistischste Roboter steht vor einer Tafel mit wirren Strichen. „Vielleicht ist das ja auch ganz beruhigend“, so Stöcker.

Beruhigend war aber nicht, was dann folgte: Beispiel um Beispiel zeigte Stöcker, wie leicht es ist, mit KI falsche Informationen zu generieren. Die können harmlos sein (griechische Skulptur macht Breakdance), aber auch Börsenkurse zum Einstürzen bringen (Pentagon brennt). Die können skurril sein (Werbeclip für ein Baseball-Team, in dem sich mehrbeinige Menschen mit Ketchup bekriegen), aber auch politische Unsicherheit bedingen (Newsmeldung über Joe Bidens Tod). Jede:r kann diese Informationen am Smartphone erstellen, sofort, überall, ständig.

Die letzten exponentiellen Kurven musste Stöcker prognostizieren: Authentisch erscheinende KI-generierte Bilder und Texte sind Realität, für KI-generierte Videos wird das bald der Fall sein. „Für den öffentlichen Diskurs bedeutet das: Sehr überzeugende Desinformationsinhalte werden explosiv zunehmen.“ Insbesondere auf Social-Media-Plattformen verbreiten sich falsche Informationen zudem viel schneller als Fakten, was die Entwicklung weiter beschleunigen dürfte.

Als Antwort braucht es laut Stöcker, natürlich, rasantes Wachstum: Zum einen müssen Fragen wie Persönlichkeitsrechte, Recht am eigenen Bild, Urheberrecht sehr schnell neu verhandelt und angemessen reguliert werden. Zum anderen muss die Öffentlichkeit in sehr hohem Tempo auf diese Entwicklung vorbereitet werden. „Prebunking“ nennt Stöcker das: Statt KI aufhalten zu wollen, muss man in die Kompetenz der Gesellschaft investieren.

In der Fragerunde, die die IfK-Masterstudierenden Valeria Pehle und Elias Hantzsch moderierten, sprach Stöcker noch über weitere rasante Entwicklungen. Er umriss etwa, wie KI die Arbeitswelt oder die Medizin verändern wird. Während sie hier schon bald manche Berufe obsolet machen kann, wird sie uns da neue Therapien ermöglichen. Verzweifelt muss an diesem Abend also niemand den Saal verlassen.


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